Das goldene Ei

oder

Ein Segen der See



Vor langer Zeit peitschte ein Sturm die Fluten der Nordsee, peitschte sie auf zu immer höheren Wellen, dass die Welt im Getöse von Wind und Wasser zu versinken schien.

In dieser Nacht segelte ein Schiff nicht weit vor der nordfriesischen Küste vorbei. Es wird wohl ein Handelsschiff von weither gewesen sein, denn niemand kann sich an den Namen erinnern. Es versank beinahe unbemerkt unter den hereinbrechenden Wellen, wurde hinab gezogen in die Tiefe eines Priels, der die zerfetzten Segel, den zerborstenen Schiffsleib bei der nächsten Ebbe mit sich hinaus in die dunklen Weiten des Meeres nahm. Die Familien der Seeleute warteten vergeblich auf die Rückkehr ihrer Männer, die nur durch die Weite der See noch mit ihrer Heimat verbunden waren, denn die See ist überall zugleich und doch stets dort, wo sich jemand mit seiner Trauer an sie wendet.


Das Schiff also war gesunken und die einzigen, die davon etwas ahnten, waren die Einheimischen der nordfriesischen Halbinsel, die für ein paar Wochen immer wieder Bruchstücke von Schiff und Ladung in der Weite des Watts fanden. Nichts davon interessierte sie jedoch sehr. Sie waren Fischer, und wenn sie nicht fischten, kümmerten sie sich um ihre Schafe.

Zeit verging, Jahreszeiten kamen und gingen, mit ihnen größere und kleinere Stürme und Sturmfluten, bis eines Tages doch noch eine Spur des versunkenen Schiffs seinen Weg zur Küste fand. Es war in einem Frühjahr, als die Stille der grau-braunen Winterlandschaft dem Aufatmen des Frühlings wich. Der Huflattich blühte mit dem Scharbockskraut um die Wette, bis die grünenden Wiesen vor gelben Tupfen nur so leuchteten. Die ersten Lämmer tollten durch diese neu erstandene Welt und verhießen nach altem Glauben ein besonders gutes Jahr, so hoch sprangen sie in ihrem Spiel.

Und die Gänse, die den Winter über in südlicheren Gefilden Zuflucht vor dem vielen Schnee und Eis gesucht hatten, kehrten zurück in die Schilfdickichte um die Brackwasserseen nahe der Küste. Sie bauten ihre Nester, stromerten durch die saftigen Wiesen, um die würzigen Blüten des Scharbockskrauts auszurupfen, sodass der Huflattich gewonnen hätte, wäre er nicht lieblingsspeise einiger Schafe gewesen, und erfüllten die Luft mit ihren Stimmen, damit alle wussten: Nun begann die Zeit der Liebe von Neuem.


Eines der Gänsepärchen nistete etwas weiter abseits von den anderen, nahe dem Strand zwischen ein paar großen Steinbrocken, die wohl einmal Gedenksteine gewesen waren, denn in ihre rauen Oberflächen waren verwitterte Zeichen eingemeißelt. Die Gänse allerdings kümmerte das wenig. Ihnen genügte es, dass sie ein windgeschütztes Plätzchen für die Aufzucht ihrer Jungen gefunden hatten. Eines Tages verließ die Gänsemutter das Nest für eine Weile, um im Schlick des Watts nach Krabben zu suchen, die das ablaufende Wasser zappelnd in der Ebbe zurückgelassen hatte. Was sie jedoch fand, als sie ihren Schnabel wonniglich durch den Schlick wühlen ließ, war etwas ganz anderes. Sie stieß gegen etwas Hartes, das sich leicht zu Tage befördern ließ. Es war ein Ei, schwer und kalt und golden glänzend, in etwa von der gleichen Größe wie die sechs Eier, die die Gänsemutter soeben für eine Weile verlassen hatte.

Was für eine Mutter mochte das nur sein, die ihr Eierkind im Watt verlor und so eisig kalt werden ließ! Die Gans plusterte entrüstet ihre Federn und beschnabbelte das Ei nachdenklich und horchte auf ein Lebenszeichen. Überrascht stellte sie fest, das ganz leise Laute aus dem goldenen Ei hervor drangen, wie ein leises Klickern. Wie könnte sie also dieses arme Kind mutterseelenallein im Watt liegen lassen? Die Brust der Muttergans schwoll vor Mitgefühl und sie machte sich entschlossen daran, das fremde Ei heim zu ihrem Nest zu rollen, wo sie es behutsam neben ihre eigenen Kinderchen bettete.

Schließlich kam die Zeit, da die kleinen Gänschen zu schlüpfen begannen, mit leisem Piepsen und Klopfen, eines nach dem anderen. Nur das goldene Ei rührte sich nicht, während die Küken schon unter den Fittichen ihrer Mutter um die wärmsten Plätze rangelten.

Die Gänsemutter stupste das Ei ermunternd, worauf das leise Klickern wieder ertönte, recht schwächlich und sicher nicht stark genug, um die Schale aufzubrechen. So stupste die Gänsemutter das goldene Ei heftiger, klopfte mit ihrem Schnabel dagegen bis schließlich die Schale ganz plötzlich entzwei sprang. Doch kein feuchtes, benommenes Küken kam daraus hervor gekrochen.

Stattdessen erhob sich in vollendeter Schönheit ein Gesang, ein Lied von Sonnenstrahlen, warmen Tagen und funkelndem Wasser. Der Klangvogel breitete seine Flügel aus, flatterte ein paar Mal ums Nest herum, wurde leiser und verschwand in den Weiten des blauen Frühsommerhimmels.

Da wusste die Gänsemutter, dass sie einen göttlichen Geistvogel ausgebrütet hatte, der keinen Körper außer seinem Gesang besaß und ohne ihre Hilfe nie aus dem goldenen Ei geschlüpft wäre.

Als die Gänseeltern mit ihren sechs flüggen Jungen das Nest verließen, um sie den anderen Gänsen im Röhricht der Brackwasserseen anzuschließen, blieb die Schale des Geistervogels im Nest zurück. Das Meer schickte bei der nächsten Flut einige kräftige Wellen aus, die versuchten, das goldene Ei zurück in seine Wasser zu ziehen, doch die Steine hielten es fest, sodass die Boten der See nichts ausrichteten, als feinen Sand über das Funkeln des Eis zu spülen.


So dauerte es noch bis zum Herbst, als sich die Gänse in Scharen sammelten, um wieder gen Süden zu fliegen, bis ein Junge aus einem nahen Dorf zwischen den Steinen nach angespültem Holz suchte, um damit im Winter das Haus der Familie heizen zu können, und im Schlick etwas glitzern sah. Eine Münze vielleicht, oder ein Fischermesser?

Doch nur zu bald erkannte er, dass es etwas ganz anderes war, das seine Finger da aus dem Schlick ausgruben. Nicht nur, dass die Form keinem Gegenstand entsprach, den er aus seinem Alltag kannte, nein, das Metall war auch weder Eisen noch Kupfer. Nur der Ehering seiner Mutter, ein hauchzarter schmaler Reif, fällt ihm ein, die einzige Rücklage seiner Familie. Sollte dieses seltsame Ding tatsächlich aus... Gold sein?

Er lief rasch damit zum Spülsaum des Wassers, wusch Sand und hartnäckigen Schlick ab, bis die seltsame Form plötzlich Sinn ergab und sich die beiden Hälften an ihrem Scharnier wieder zu einem Ei zusammenfügten. Ganz verzaubert von seinem Fund fuhr er mit den Fingern die feinen Gravuren auf der glatten Oberfläche nach, die hie und da ein wenig zerkratzt waren. Linien fügten sich zu Ranken und Schnörkeln zusammen, die das goldene Ei wie ein Gespinst umhüllten. Noch nie in seinem Leben hatte der Junge so etwas Kunstvolles gesehen. Ohne lange zu überlegen verbarg er das Ei in seiner Mütze, die er in den Händen trug, während er den ganzen Weg zum Haus seiner Familie rannte. Sie kamen alle zusammengelaufen, seine Geschwister, die Eltern und die Großmutter, als er rufend in den Hof vor dem Reetdachhaus stolperte.

Der Junge berichtete atemlos von seinem Fund und das goldene Ei machte die Runde von einer ehrfurchtsvollen Hand zur nächsten, bis es die Großmutter erreichte. Sie schüttelte das Ei ein wenig, hielt es dabei an ihr Ohr, und gerade, als ihr Sohn, der Vater des Jungen, sie dafür verspotten wollte, fanden ihre Finger die Kerbe mit dem winzigen Hebel, der das Ei aufklappen ließ.

Die muntere Melodie, die die Gänsemutter für ihre aufopferungsvolle Brut entschädigt hatte, klimperte aus dem goldenen Schmuckstück hervor, stockte dann und verstummte.

Ne Spieluhr‹, seufzte die Großmutter. ›Wi mütten se nur better sauber moken, dann wird se uns je ganzes Lied vörspielen.‹

So war es auch und schon bald wussten alle Leute in den umgebenden Gehöften und Dörfern, dass der Junge am Strand eine goldene Spieluhr gefunden hatte, ein wahres Kunstwerk und wertvoll sicher noch dazu.

Gemäß der halbheimlichen Art der Dorfgemeinschaften fanden sich an einem Abend in diesem Herbst alle Leute im Hof der Familie des Jungen ein, um das Fundstück zu bestaunen. Und wie es so lief, waren der Graf und der missgünstige Schulte die einzigen, die keine Ahnung von alledem hatten.

In der großen Runde wanderte das Ei wiederum von Hand zu Hand und Männer, Frauen und Kinder lauschten gemeinsam andächtig der Melodie.

Nachdem schließlich alle das goldene Ei bewundert hatten, kam die Frage auf, was die Familie des Jungen nun damit machen wolle. Wenn sie es verkauften, so meinte einer der Männer, die mit ihren Fuhrwerken häufig in die ferne Stadt fuhren, wären sie wohl Zeit ihres Lebens alle Sorgen los.

Die Großmutter aber lachte ihn aus.

Ok nee‹, widersprach sie. ›Dann fängt unser Sorgen erst an. Kleene Lüüt as wi kömmen doch nich an so een Schatz, ohn dat de Herren gloven, dat sei gestohlen. Min Jung, segg du: Wat wiste mit de Ei moken?‹, wendet sie sich an ihren Enkel.

Da dachte der Junge nach, hielt das Ei dabei in den Händen und schaute es versonnen an, bis ihm ein Gedanke kam, so plötzlich, als habe der Wind ihn in sein Ohr geflüstert. Später erzählte er stets, der Gedanke sei nicht sein eigener gewesen, sondern eine große Eingebung.

Das Ei solle allen gehören, sagte er. Es solle allen nützlich sein, denn schließlich sei es an ihrer aller Strand gespült worden, er habe eben nur das Glück gehabt, es zu finden. Und natürlich sei es nicht verkäuflich. Immerhin sei es ein Geschenk der See, und Geschenke müsse man behalten.

So kam es also, dass das goldene Ei seinen Platz in der Dorfkirche fand, wo der Priester es hütete und alle es jederzeit bewundern konnten, wie es da in einer eigens für diesen Zweck geschnitzten Schatulle lag. Doch erst, als die Zeit der Steuer kam und der Graf mit seinen Leuten an einem Sonntag in der Kirche erschien, entfaltete das goldene Ei seinen vollen Segen.


Die Abgaben, so verkündete der Graf, seien vom Satz des Fünften auf den Dritten Teils angestiegen, zusätzlich zum kirchlichen Zehnt. Er erwarte die Zahlung noch an diesem Tag. Da erhob sich einer der Ältesten, der in der Dorfgemeinschaft den größten Respekt genoss, und sprach dem Grafen zuwider. Dass die Fischer nun ein Drittel ihrer Einkünfte und Ernte, die ohnehin meist mager ausfielen, an den Grafen abgeben müssten, sprach er, sei nicht rechtens. Dies brachte er respektvoll vor, sprach von den alten Übereinkünften und schlechten Zeiten, doch der Graf wollte nichts davon hören.

Der Dorfälteste wandte sich nun an den Priester, und fragte ihn nach seiner Meinung als Vertreter Gottes auf Erden. Habe nicht der Graf gegen das Gesetz der Sittlichkeit verstoßen, indem er im Übermaß Abgaben forderte? Nur ein gerechter Fürst solle über das Land herrschen.

Der Priester gab ihm recht, und sprach von einem göttlichen Zeichen, was den Grafen erboste.

Was für ein Zeichen soll das sein?‹, brüllte er und hätte beinahe Hand an den Gottesmann gelegt, der sich auf die Seite der Dorfleute schlug.

Der Priester aber nahm das goldene Ei aus seiner Schatulle und hob es empor.

Dies ist Gottes Zeichen‹, verkündete er. ›Ein Symbol weltlicher Macht, das unserem Dörflein geschenkt wurde, angespült von der See, aus den Untiefen empor gehoben. Ein Zeichen, dass uns vor Seinen Augen und denen der Welt unabhängig macht von einem Grafen, der uns die Gerechtigkeit verweigert. Vor dem Angesicht Gottes und mit Seinem Segen erkläre ich die Freiheit unserer Gemeinde! Wir sind eine eigene Landung. Niemand außer der Gemeinschaft und der Kirche wird hier mehr Abgaben fordern!‹

Der Graf stand wie erstarrt als die Fischer in Jubel ausbrachen, und auch seine Männer verharrten reglos, als keine Befehle kamen. Schließlich traten sie den Rückzug an.

Kaum zurück bei seinem Herrschaftssitz bat der Graf den Bischof der Halbinsel zu sich und schilderte ihm die seltsame Begebenheit um das goldene Ei. Die beiden Männer sprachen lange miteinander, und am nächsten Tag reiste der Bischof zu der kleinen Dorfkirche, ließ sich die Spieluhr zeigen und die Meinung der Dörfler erklären.

Als er zum Grafen zurückkehrte, seufzte er schwer. Er habe an der Rede des Priesters und der Dörfler nichts aussetzen können. Es sei wohl tatsächlich ein göttliches Zeichen, denn sicherlich geschehe es nicht ohne Gottes Wissen und Absicht, dass ein derartiges Kleinod wie das goldene Ei seinen Weg in ein kleines Fischerdorf in der nordfriesischen Marsch finde.

Von diesem Tag an kamen viele Pilger, um das goldene Ei in der kleinen Kirche zu bestaunen, und nicht nur das Ei. Sie kamen, um ein paar Atemzüge von der Freiheit und Bedeutung zu nehmen, die jene goldene Spieluhr einem unbedeutenden Dorf geschenkt hatte. Und sie alle nahmen in ihren Herzen den Wunsch mit zurück in ihre Heimat, ein ähnliches Wunder erleben zu dürfen.


Ein Wunder, das mit einer kalten Nacht, brausendem Wind und dem Brausen der Wellen seinen Anfang nahm. Mit dem Untergang eines stolzen Schiffes in der Nacht und meinem Versinken im Schlaf, als ich mit meiner Schwester zwischen den Jahren im Dezember in einem Holzturm übernachtete, umgeben von Feuchtwiesen, auf denen überwinternde Gänse der Nacht eine Stimme verliehen.

Das Meer, der Wind und die Gänse haben mir eine Geschichte geschenkt.

Und verschenke ich sie weiter.

Wie das goldene Ei will auch diese Gabe geteilt werden.



Hannah Holzgreve; Februar 2014