(Die folgende
Geschichte hatte ich für die RISSE-Ausgabe zum Thema 'windig' geschrieben.)
Der Wind trägt das Rauschen der Landstraße zu Janne herüber, schleudert es an ihr vorbei und hoch hinauf in den grauen Himmel. Sie hält im Gehen inne und schaut dort hin, wo im Schummerlicht die Fahrzeuge zu Lichtpunkten werden, erst weiß, dann rot. Menschen auf dem Heimweg, von einem Ort zum anderen, sicher verpackt in ihren kleinen Blech-Kammern, die sie über das Land bewegen.
Aus der Ferne betrachtet hat diese Kette von Lichtern etwas Friedliches an sich. Etwas Beruhigendes beinahe. Und doch trügt der Schein, wie so oft.
Unzählige Male ist Janne mit ihrem Fahrrad die Kilometer entlang der Landstraße in die Stadt gefahren, von Windböen durch rasende LKWs hin und her geschleudert, von schicken teuren Wagen mit an die hundert Sachen so dicht überholt, dass sie vor Schreck fast im Graben gelandet wäre, während der Gegenverkehr hupend protestierte. Jede Fahrt ein Ringen mit der Angst, obwohl sie sich irgendwann beinahe daran gewöhnt hat. An die Angst und auch an die scheinbar zahllosen Tiere, die der Landstraße zum Opfer gefallen sind: Windschweine, die wie kleine Erdhügel auf dem Feld liegen, wohin sie sich vor ihrem Tod geschleppt haben, zerfetzte Hasen, Marder und Vögel. Und jedes Mal dachte sie bei dem Anblick: Das könnte ich sein. An diesem Tag aber kann Janne den brausenden Verkehr aus der Ferne betrachten und sich abwenden, wenn ihr danach ist. Sie wandert weiter den Deich entlang, der Boden unter ihren Füßen ist gefroren und hart.
Daran hätte sie denken sollen, schilt sie sich selbst kopfschüttelnd, und verlagert ihre Kiste auf den anderen Arm. Die mitgeschleppte Schaufel lässt sie einfach am Weg liegen, es hätte ohnehin keinen Zweck. Aus dem Begraben wird nichts werden. Dabei hatte das Pathetische dieser Tat ihr doch so zugesagt: Begraben mit Blick auf endlose Felder und den quecksilbern dahin fließenden Ryck. Dumpfe, friedliche Farben. So nüchtern wie der Landstich, der sie hervorbringt. Diese herbe Schönheit hat Janne immer geliebt.
Die junge Frau atmet tief die eisige Luft und geht unentschlossen weiter, ihre Kiste umklammert, um nicht umkehren zu müssen. Wozu auch? Sie hat über eine Stunde gebraucht, um zu Fuß an diesen Ort zu kommen. Und statt ihre Gedanken davon zu wehen, hat der Sturmwind sie nur immer wieder an ihr Unglück erinnert.
An das Aufschrecken aus dem Rausch des Schreibens, als ihre Gedanken nur so auf das Papier flossen wie schon lange nicht mehr, ehe ihr plötzlich ein Knarzen durch Mark und Bein fuhr und die nächste Windböe das provisorische Dach ihres Bauwagens davon riss. Flatternde blaue Plane vor einem grauen Sturmhimmel. Aufwirbelnde Blätter, verirrte Schneeflocken in der Küchenecke, auf dem Tisch, auf ihrem Bett. Von gierigen Windfingern fortgerissene Worte und Gedanken.
Zum Glück konnte sie die Plane samt Dämmschicht wieder aufnageln, doch lange würde es nicht halten. Und kein Geld, um ein besseres Dach zu bauen, niemand da, um ihr zu helfen. Der Wagenplatz war seit Tagen wie ausgestorben, alle haben anderswo zu tun oder sind zu ihren Familien gefahren, um der Kälte, dem stinkenden Badezimmer in dem einsturzgefährdeten Haus und den Provisorien dieses Lebens zu entkommen.
Nach dem Schreck, der Erleichterung über das reparierte Dach, den Gedanken an die kommende, bitterkalte Nacht, erst da dachte Janne wieder an ihre Arbeit. Sie klaubte Papier um Papier wieder auf, sortierte die Bögen und wusste schon bald, dass beinahe die Hälfte fehlte. Dabei war sie doch so überzeugt gewesen, dass ihr mit diesem Kurzroman endlich, endlich der Durchbruch gelingen würde. Sie nach so vielen geplatzten Versuchen in Künstlerkreisen ein Bein auf den Boden bekäme. Und nun das.
Janne blinzelt gegen den beißenden Wind an, der ihr die Tränen in die Augen treibt, und wünscht, sie könnte ihren Mantelkragen hochschlagen gegen die bittere Kälte, wie es manchmal so malerisch heißt. Doch sie besitzt keinen Mantel, und ihre abgescheuerte schwarze Jacke hat auch keinen Kragen. So zieht sie nur fröstelnd die Schultern hoch und geht weiter.
Die Kiste in ihren Armen wird schwerer und schwerer, je kälter ihre Hände in den Fingerhandschuhen werden. Die Böen wirbeln ihr das dunkelblonde Haar ins Gesicht und sie muss an eine Unterhaltung im Küchenwagen vor ein paar Wochen denken, als es um ihre chronische Geldebbe ging. Hast doch schöne Haare, kannst du abschneiden und verkaufen.
Sie schiebt die Kiste auf einen Arm und zwirbelt eine Strähne zwischen den Fingern. Vielleicht keine so schlechte Idee. Die Zeiten, in denen sie noch vor sich hin träumen konnte, sind eindeutig vorbei. Warum da nicht Abschied nehmen von den langen Mädchenhaaren? Und dann auch gleich von ihren Machwerken, die außer ihrer Familie und ein paar Bekannten ohnehin niemand haben will.
Mit einem leisen Fluch stellt sie die Kiste auf den Boden und öffnet den Deckel, greift hinein und schleudert die Blätter büschelweise in den Küstenwind. Skizzen, Essays, Illustrationen und die Reste ihres Romans wirbeln davon, lassen ein paar Enten quäkend auffliegen und im Sturm der Papiere wild mit den Flügeln schlagen.
Klingt in dem Entengeschrei nicht auch ein anderes Klagen mit? Es scheint Janne fast, als schrien ihre Papiergeschöpfe um Hilfe, während der Wind sie davon trägt, in die Verlorenheit.
»Dann haben wir wirklich etwas gemeinsam«, murmelt Janne und ergreift das letzte Blatt, das sich noch in ihrer Kiste verbogen hat. Es ist ihre liebste Zeichnung, die stilisierte Figur einer Frau, die eins wird mit einem sturmgepeitschten Baum. ›Balance‹ hat sie es genannt und beim letzten Kunstfest viel Anerkennung dafür geerntet. Mehr aber auch nicht.
Sie ergreift das Blatt mit ihren frostkalten Fingern und schleudert es in den Wind, ehe sie nachdenken kann, verfolgt dann den trudelnden Flug mit entsetztem Blick. Vor ihr liegen die Spuren ihres Massakers ausgebreitet, hängen hell im Schilf oder treiben noch immer in Wind und kalten Fluten davon.
Was hat sie nur getan?
Der Deich gibt ihr Schwung, als sie hinab zu Ufer stürzt, den Blick fest auf die ›Balance‹ gerichtet, die auf dem hohen Gras Salti schlägt, näher und näher ans Wasser heran. Jannes Füße stolpern auf dem gefrorenen Schlamm, werfen sie bäuchlings ins Schilf, wo sie weiter voran kriecht, bis ihre Finger das Papier berühren und ihre Arme im beißenden Wasser landen.
Sie hält ihr liebstes Bild fest umklammert, dessen Konturen vom Wasser verschwimmen.
Ihr Leben fängt von vorne an, drei Jahre voll Herzblut sind ausgelöscht. Nun sitzt sie am Ufer und weint.
Ich schiebe mein Fahrrad durch den Schlamm hinaus auf die Straße, auf der die flachen Absätze meiner Schuhe laut klacken. In meiner Brust sitzt ein dicker, schwerer Kloß, der auch da bleibt, als ich mich auf mein Fahrrad schwinge und schnell zu treten beginne. Als könnte ich vor dem Kloß davonfahren. Kann ich aber nicht.
Ich habe einen Fehler gemacht. Das tut eben weh. Besonders, wenn ich vorher dachte, es sei so eine gute Idee, so ein guter Text, den ich eingeschickt habe. Die Ablehnung war kein schwerer Schlag, nur die Erklärung machte mich wütend. Mein Sprachstil sei schlecht und mein Erzählstil auch, das ganze Ding sei schlecht konzipiert und nicht besser durchgeführt gewesen, lautete die Antwort in zugespitzter Zusammenfassung. Nur der Erzählwille, der sei da. Ich solle ruhig weiter schreiben. Ich glaube, dem Menschen war nicht ganz klar, wie widersinnig das für mich klang. Verstanden habe ich die Kritikpunkte auch nicht ganz. Mein Bauwagennachbar bot also an, den Text mal durchzulesen und mir dann zu sagen, was er davon hält. Damit ich mit der Kritik vielleicht durch einen etwas anderen Blickwinkel doch etwas anfangen kann.
Mein Fahrrad holpert durch ein paar Schlaglöcher im Feldweg, als ich einer Dörflerin mit ihren zwei Hunden ausweiche. Wir grüßen uns, aber anders als sonst halte ich nicht an, um zu schnacken. Ich fahre weiter an den Büschen entlang und lasse den Blick über die Felder schweifen, irgendwo hoch oben kreist ein Greifvogel, dessen spitze Schreie sich schmerzhaft in mein Herz bohren.
Die Kritikpunkte verstehe er nicht ganz, sagte mir mein Mitbewohner. Er habe andere Probleme mit dem Text gehabt. Er sei zu persönlich, so eine Aufarbeitung eines eigenen Erlebnisses gehöre doch vielleicht nicht an die Öffentlichkeit.
So ein Text schreie den Leser an: Sieh mich, erkenne mich an! Alle lehnen mich ab, nicht auch noch du!
Vielleicht habe der Mensch von der Redaktion sich emotional unter Druck gesetzt gefühlt, darum die schwammigen Erklärungen und das für mich pseudo-empathische Angebot, ich solle ihm doch ruhig weitere Texte schicken und das Schreiben nicht aufgeben.
Zwei LKWs donnern an mir vorbei, noch ein paar kleinere Wagen, dann kann ich auf die Landstraße einbiegen. Die Frühjahrssonne bringt mich ins Schwitzen, trotz Rückenwind.
Das Thema war schlecht gewählt, das erkenne ich jetzt. Peinlich, dass ich gar nicht auf den Gedanken gekommen bin, es könnte als Betteln um Aufmerksamkeit und ein bisschen Lob gewertet werden. Ich war einfach so froh, als ich die Geschichte nach der fünften Umgestaltung endlich so hinbekommen hatte, wie ich wollte. Ich habe den Text doch auch anderen vorgelesen, bevor ich ihn eingesandt habe, warum hat mir von denen keiner gesagt, dass das Thema so gar nicht geht, weil es ziemlich verzweifelt wirkt?
Und jetzt habe ich den Text nach der Absage auch noch auf meine Homepage gestellt! Wie peinlich ist das, wenn der bei allen so ankommt wie bei meinem Mitbewohner? Frau mit Versagensängsten bettelt um Beachtung? Verdammt! Ich muss den Text wieder löschen. Mir ist fast zum Heulen zumute, weil ich so dumm war.
Ein Jeep überholt mich mit Vollgas, um nicht frontal gegen den entgegenkommenden Bus zu klatschen und schert um Haaresbreite vor mir wieder ein. Der ganz alltägliche Wahnsinn.
Wann habe ich eigentlich aufgehört, in solchen gefährlichen Lagen Adrenalinschübe zu bekommen? Wären Bus und Jeep zusammengeknallt, hätte die kleinere Karre mich bestimmt von der Straße gefegt und mit Pech wäre noch einer von hinten in die Karambolage reingedonnert. Ich wäre Matsch gewesen. Aber inzwischen kann ich nur noch müde den Kopf schütteln, wenn die Autofahrer auf der Landstraße so leichtsinnig mein Leben riskieren. Es passiert ja jeden Tag. Angst habe ich nur noch selten.
Jetzt kann ich ganz entspannt weiterfahren.
Es ging mir um die Atmosphäre. Wie meistens, wenn ich schreibe. Ich erzähle eine kurze Geschichte, aber was ich vermitteln will, ist ein vielschichtiges Gefühl, ein Gefühl, das jeder von uns in der einen oder anderen Form kennt. Durch die Erzählung wird das Gefühl wach gerufen und vielleicht erinnern wir uns, wann wir uns in unserem Leben schon einmal so gefühlt haben. Durch Empathie mit der Figur kommen wir zu Aspekten unseres eigenen Lebens zurück. Eskapismus mit Falltür.
Und diesen Text hatte ich eigens für die Literaturzeitschrift geschrieben, Eindrücke gesammelt, die das Thema ›windig‹ bei mir auslöste: Wind auf dem Ryckdeich, beim Radfahren auf der Landstraße. Das Gefühl, abzuheben. Turbulenzen im Leben. Graue Stimmung.
Als ich den Text das erste Mal schrieb, war die Figur ein Mann. Leider war sie einem anderen Mitbewohner so ähnlich, dass ich es nicht über mich brachte, es dabei zu belassen und ihm anzudichten, was meine Figur erlebte. So wurde eine Frau aus dem Mann, die trotzdem dem ursprünglichen Charakter sehr ähnlich war. Macht ja nichts, dachte ich. Aus Frauenperspektive kann ich einfach überzeugender schreiben.
Ich schickte den Text ein, denn im Grunde hatte er wenig mit mir zu tun. Darum kränkte mich die Ablehnung auch nicht so sehr wie eine andere, bei der ich sehr intime Texte eingereicht hatte. Das mache ich nicht mehr, es verletzt zu sehr.
Darum schrieb ich einen Text und schrieb nicht über mich. Jetzt kommt mir nicht mit: ›Da hat dir dein Unterbewusstsein einen Streich gespielt‹! Ich habe nicht über mich geschrieben und ich wollte ganz bestimmt nicht, dass man denkt, ich wäre diese Janne, die da alle ihre Kunstwerke in den Wind schießt, weil sie nicht damit klarkommt, dass sie noch nicht erfolgreich ist. Dass ich damit um Aufmerksamkeit hätte betteln wollen. Ich fand die Szenerie interessant. Den Leser so verwirrt und ratlos zurückzulassen wie Janne, das fand ich interessant. Es war ein künstlerisches Experiment. Karten ziehen und einen Text daraus schreiben. Kein Aufarbeiten einer eigenen Erfahrung. Kein Text über mich.
Aber jetzt schreibe ich über mich. Verstanden? Über mich!
Ich bin wütend! Nicht mehr bedrückt und niedergeschlagen und traurig und beschämt und enttäuscht, nein, ich bin richtig wütend!
Ich trete noch schneller in die Pedale, bis mir der Fahrtwind in den Augen beißt und die Reifen auf dem Asphalt laut singen. In rasender Fahr passiere ich das greifswalder Ortsschild.
Wenn ich über eine junge Frau schreibe, die sich hässlich findet, denken alle sofort, ich fühle mich hässlich. Wenn ich über eine andere junge Frau schreibe, die Drogenerfahrungen macht, denken alle, ich hab auch schon was eingeworfen und wenn ich von einer Künstlerin schreibe, die sich nach ihrem beruflichen Scheitern von einer Klippe stürzt, denken sie dann auch, ich hätte Suizidabsichten?
Fiktion heißt das Wort! FIKTION!
Nur weil meine Figuren Frauen sind und jung heißt das nicht, dass sie ich mit einem anderen Namen und einem anderen Aussehen sind. Wenn ich eine schwierige Situation beschreibe, heißt das nicht, dass ich damit ein eigenes Trauma aufarbeiten will. Mache ich denn therapeutisches Schreiben, oder was? Wenn ich vierzig wäre und schon verschiedene Sachen veröffentlicht hätte, wäre das sicher etwas anderes gewesen.
Nur, weil ich jung und noch nicht hoch erfolgreich bin, darf ich nicht über das Scheitern schreiben? Weil die Leser sich emotional unter Druck gesetzt fühlen, weil sie denken, es ginge um mein Scheitern? Hallo?!
Nur, weil ich Männer nicht so gut verstehe und gerade kurze Texte am besten aus der Warte von Charakteren schreiben kann, in die ich mich hineinzuversetzen vermag – also junge Frauen – heißt das nicht, dass sie autobiographisch sind und weil sie manchmal Probleme haben, mit denen ich auch irgendwann einmal zu kämpfen hatte – im konkreten Fall das Scheitern – heißt das nicht, dass es tief persönliche Texte sind! Verdammte Scheiße!
Beinahe hätte ich einen dicken BMW übersehen, der aus seiner Einfahrt geschossen kommt, so wütend bin ich.
Wenn ich einen Text lese, weiß ich meist nicht einmal das Geschlecht des Autors, geschweige denn den Namen. Sie sind mir einfach nicht wichtig und ich habe ein grottenschlechtes Namensgedächtnis. Für mich sind die Figuren der Geschichten eigenständig handelnde Gestalten, die meist wenig mit ihren Schöpfern zu tun haben.
Was ist denn sonst noch so frei wie die Kunst?
Ich springe am Eingang der Fußgängerzone mit klappernden Absätzen von meinem Fahrrad und schließe es vor dem örtlichen Laden für Bastelbedarf an.
Ich gehe mir jetzt schönes Zeichenpapier kaufen. Und mein windiger Text bleibt auf meiner Homepage.
Und damit er nicht missverstanden wird, schreibe ich noch einen. Darüber, wie destruktive Beschämtheit durch den Zauber von frischer Luft und Fahrradfahren in etwas viel Produktiveres umschlagen kann.